Die Zeit ist reif in den Metropolen – wofür?
Ende Mai 1979,
Aus der Frosch/Frust-Perspektive mehrjähriger Staatsschutzhaft in Moabit,
durch die mehr oder minder leidenschaftliche Diskussion zwischen, um und über Horst Mahler und Peter Paul Zahl
sowie den berüchtigten Ernst Derlage
an- und aufgeregt versuch ich, meine Gedanken zu sortieren.
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Vordergründig gehts um Horst Mahler und PPZ, um die Haftbedingungen von Staatsschutz- und gesellschaftlichen Verfassungs-Schutzgefangenen, um Sinn und Unsinn einer Amnestiekampanje. Es geht aber auch um die aktuellen Chancen der revolutionären Bewegung (gesetzt den Fall, es gäb sie doch), ums Schicksal der antiautoritären Bewegung von 68 in den Metropolen und ihre Wandlungen. Es geht um die Politik der Stadtgerilja, eine kritische und selbstkritische Würdigung ihrer Verdienste und ihrer Fehler. Es geht um die Massenbewegung, um Aufgaben, Probleme und Möglichkeiten revolutionärer Politik. Es geht um Leben und Tod und Überleben. Es geht um die aktuellen Formen herrschender und revolutionärer und konterrevolutionärer Gewalt. Es geht um das Verhältnis anti-imperialistischer und anti-kapitalistischer Grundströmungen im Freiheitskampf der Menschen zu Beginn des neunten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Es geht um ein tieferes Verständnis der Bewegung gegen Kernkraftwerke und Umweltzerstörung und das Verhältnis dieser Bewegung zum demokratischen und revolutionären Sozialismus.
Es geht noch immer wie in der Diskussion Ausgang des 19. Jahrhunderts (etwa zwischen Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg) um Sozialreform und Revolution.
Es geht um die Zukunft der Menschen, die Alternative Sozialismus und Barbarei.
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Der ehemalige Apo-Krieger §§§-Hotte, der, man weiß noch nicht in welcher Absicht, nach billigstem Reformfusel stinkend sich anschickt, das Lager der Bleichgesichter zu betreten, schenkt den ehemaligen Genossen zum Abschied ein paar Denkanstöße, deren analütischer Impuls im Entrüstungsgeschrei über den vermeintlichen oder tatsächlichen Verrat eines Abtrünnigen unterzugehen droht. Indianer weinen nicht. Sagt Mahler. Soll heißen: Revolutionäre, als die sich die Gefangenen des Staatsschutz ja verstehen, soweit sie ungebrochen sind, müssen Knast und Verfolgung und alle Torturen ertragen, ohne zu jammern. Mahler formuliert soweit eigentlich nur eine revolutionäre Binsenweisheit. Im Kampf für unsere gemeinsame Sache (den Weltkommunismus) dürfen wir unser eigenes, persönliches Schicksal nicht in den Vordergrund schieben und zu hoch veranschlagen. Es ist ihre Selbstlosigkeit, ihre hohe Moral, gepaart. mit Intelligenz und Tatkraft, die Menschen wie Rosa Luxemburg, Che Guevara, Ulrike Meinhof, Ajatolla Chomeni und andere zu leuchtenden Vorbildern ihrer Zeitgenossen macht. Mahler begnügt sich leider nicht damit, falsche Haltung und fehlerhafte Politik der Gerilja zu kritisieren, er fordert Verständnis für die Verbrechen der Staatsschutzpolitik und tut damit das, wovor er zu warnen vorgibt, treibt jugendliche Radikale zu Verzweiflungsaktionen und in putschistische Politik. Ganz zweifellos haften seiner Haltung ganz andere Beweggründe an, als nur der schäbige Egoismus eines Menschen, der um jeden Preis die eigene Haut retten will. Wer sich damit begnügt, ihm dies zu unterstellen, läßt den Zorn sprechen statt des Verstands. Mahler ist in Panik geraten Als einer, der tatsächlich einmal einen theoretischen Meilenstein für eine ganz bestimmte Richtung praktisch-revolutionärer Politik gesetzt hat, versucht der „tätige Reue“ zu üben, nicht nur im Sinne bürgerlicher Strafgesetze und würde dabei, wenn er könnte, das Kind der Revolution mit dem Badewasser einer im Knast weitgehend zur Sekte verkommenen Gerilja in der bunten Republik Deutschland auskippen.
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– Bilanz nach 10 Jahren
Wichtiger als die Mahlerforschung scheint mir der Versuch, nach 10 Jahren Ansätzen zum bewaffneten Kampf in der BRD, eine vorläufige Bilanz zu ziehen. Als einer der frühesten Verfechter, Mitverantwortlichen und Mitmacher dieser Entwicklung, die viele, auch Linke, für alle Übel der gegenwärtigen Repressionsrepublik als Ursache ansehen, kann ich diese Entwicklung nicht von außen kritisieren, sondern nur als Selbstkritik, die durchaus von dem Bewußtsein bestimmt ist, daß nicht alles falsch war.
Die RAF hat ihre historische Aufgabe erfüllt.
Ihre Aktionen hatten Fanal-Charakter, waren von dem Bewußtsein getragen, daß gegen die Gewalt des Kapitalismus, gegen den imperialistischen Krieg der Amis in Vietnam, mehr Gewalt von unten notwendig und möglich war und ist. Dieses Bewußtsein ist heute weit verbreitet unter jugendlichen Arbeitslosen, Schülern, Studenten, Jungarbeitern und Dropouts der vollautomatischen Idiotenfabrik BRD GmbH & Co KG. Es ist aber Aufgabe der denkenden Linken, zu verhindern, daß revolutionärer Zorn und ohnmächtige Wut in blindes Umsichschlagen und Desperadomentalität münden. Nur eine ehrliche, mutige, breit geführte Diskussion über Sinn und Unsinn revolutionärer Gewalt kann weiterhelfen.
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– Die Lorenzentführung
Die Lorenzentführung, ebenso wie eine Reihe unkonventioneller Kreditnahmen von kapitalistischen Geldinstituten hat gezeigt, daß bewaffnete Aktionen im Idealfall ohne Blutvergießen möglich sind. Es ist nicht zu hoch gegriffen, die Lorenzentführung als einen Einschnitt, einen bislang alleinstehenden Höhepunkt in der Geschichte bewaffneter Aktionen in der BRD zu werten. Ein ähnliches Ruhmesblatt ist und bleibt die Lehrter Frauenemanzipation vom 7. Juni 1976. Natürlich gabs Vorbilder. Aber Planung, Präzision, politischer Verstand, revolutionäre Fantasie, Tatkraft und Witz der Lorenzentführung wurden auch im intelligenteren Teil der bürgerlichen Schmierblätter in den höchsten Tönen besungen. Aus Gründen, die voraussichtlich noch im Lauf des Lorenz-Drenkmann-Prozesses offengelegt werden, kann ich mich diesem Chor ohne Angst vor Selbstlob nur anschließen. Die neue Qualität im Vergleich zu früheren und späteren Aktionen der sogenannten Gerilja war mir wie jedem halbwegs politisch interessierten Fernsehzuschauer unverkennbar.
Freilich hätte auch die Lorenzentführung anders ausgehen können; die kluge Nachgiebigkeit der Herrschenden im Fall Lorenz ist durch die folgenden Ereignisse von Stockholm bis Mogadischu ebenso in Vergessenheit geraten wie die Qualitäten der Lorenzentführung. Aber auch als geglückte Aktion hatte die Lorenzentführung eine Reihe von politischen Folgen, die, voraussehbar oder nicht, nachdem sie eingetreten und nicht wegzudenken oder auf Dauer wegzuleugnen sind, untersucht werden müssen.
Denn gerade die erfolgreiche Gefangenenbefreiung hat bei vielen Gefangenen und Kämpfern draußen falsche Hoffnungen geweckt und zugleich eine politische Horizontverengung bewirkt. (Und die erfolgreiche Gefangenenbefreiung hat unter den Gefangenen und ihren Freunden auch neue, furchtbare Formen der Konkurrenz geschaffen. Die Diskussion, wer warum auf welche Liste kam oder nicht kam, parodierte gewollt oder ungewollt, auf eine merkwürdige Weise das bürgerlich kapitalistische Schuldstrafrecht. Die Diskussion über Befreiungsgründe erinnerte an richterliche Entscheidungen über Haftgründe. Merkwürdigerweise oder nicht merkwürdigerweise entstanden formalistische, verlogene Kriterien.)
Wer die Befreiung einer immer noch kleinen Zahl von Gefangenen – subjektiv verständlich – zum Hauptproblem der revolutionären Bewegung in einem 60-Millionen-Volk machte, mußte notwendig scheitern, auch und gerade auf dem nunmehr fast ausschließlichen Praxisfeld der Befreiung von Gefangenen. Dies muß den Genossen der RAF, der sogenannten „neuen Bewegung 2. Juni“, die nach Theorie und Praxis nichts weiter ist als eine neue Filiale der alten RAF, da heißt der altgewordenen RAF, und Teilen der RZ gesagt werden. Auch die RAF hatte allerdings einmal ein politisches Konzept, das den Kampf in allen Lebensbereichen, in Betrieben und Stadtteilen zum unverzicht— baren Hauptinhalt revolutionärer sozialistischer Praxis erklärte. Ihre gegenwärtige Theorie und Praxis beschränkt sich darauf, Befreiung für die lebendigen und Rache für die ermordeten Gefangenen zu fordern und wie die Praxis von Stockholm, Entebbe, Buback, Ponto, Schleyer und Mogadischu gezeigt hat, abgesehen von der Rache, in der Praxis eher das Gegenteil zu erreichen. Die Meyerbefreiung und die Verhaftung von vier Genossen in Bulgarien waren, ideologisch eingebettet in das bornierte Geriljakonzept der „Befreit-die-Gerilja-Gerilja“ auch nur ein Schritt vor und zwei zurück.
Über all dem dürfen wir aber nicht vergessen, daß es in dieser Zeit auch die RZ gab und immer wieder neue, autonome Ansätze des mit der Basisbewegung verbundenen militanten Widerstands. Diese Aktionen wurden in der Propaganda der Herrschenden ebenso unterdrückt wie die im Grunde weder besonders zahlreichen noch nach internationalen Maßstäben besonders spektakulären Aktionen der RAF maßlos aufgeblasen wurden.
Auf diese Propaganda sind allzuviele reingefallen, einschließlich der bewaffneten Helden selbst, die sich von den Windmachern der Herrschenden zu den „Lumumbas der Metropolen“ und wasnichtalles aufblasen ließen.
Die Helden müssen wieder auf den Teppich kommen.
Wenigstens vernünftige Leute sollen aufhören, die Gerilja zu dämonisieren oder zu glorifizieren. Das schwerwiegendste politische Problem in diesem Zusammenhang ist die verdrängte Selbstkritik Millionen ehemaliger Nazis und Nazisümpatisanten, die schon 68 zur Mordhetze gegen bekannte Apoleute und in der Folge der Massenhüsterie gegenüber den kümmerlichen Ansätzen der Gerilja in der BRD führten. Noch geschürt von den reaktionären Schweinsköpfen an den Schaltstellen der Massenmedien entstand so ein Klima, das zwangsläufig auch zu hüsterischen Reaktionen der in den Kinderschuhen befindlichen Gerilja führte.
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Für alle, die sich nicht hüsterisch machen lassen gilt:
Wir alle müssen kleine, aber schmackhafte Brötschen backen. Es muß ein langfristiger, geduldiger Kampf für die Freiheit aller geführt werden. Die kurzfristige Gefangenenbefreiungspolitik der versprengten Gerilja-Aktivisten, die auf jeden Mißerfolg mit der Steigerung des militärischen Einsatzes am liebsten reagieren würde, erinnert an die Kakawepolitik der Herrschenden. Nach uns die Sintflut!
Natürlich erscheinen mir die Lebensinteressen gemarterter Gefangener legitimer als das Profitinteresse der Konzerne, aber zum Maßstab revolutionärer Politik dürfen nur die Bedürfnisse der Massen, ihr Anspruch auf ein Leben in Freiheit und Glück, eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Grenzen, ohne bewaffnete Unterdrückung genommen werden.
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– Kritik an Mogadischu
Meine Kritik an der Flugzeugentführung nach Mogadischu ist auch eine Selbstkritik. Ich kann und will mich nicht dran vorbeimogeln, daß ich selbst durch eine ähnliche Flugzeugentführung nach Entebbe mit befreit werden sollte. Ich stand auf der Liste der zu befreienden Gefangenen (ohne, daß ich gefragt worden wäre und möglicherweise ausgelöst durch falsche Vorstellungen von meiner Rolle bei revolutionären Aktionen) und wenn man mich gefragt hätte – man hat mich nicht gefragt – ich hätte keine Einwände gehabt gegen eine Reise von Moabit nach Afrika und war schon dabei, eine Pudelmütze für Idi Amin zu stricken. Für Idi Amin, in dem unsre kritische Presse mit nicht endenwollender Begeisterung und frei von Rassismus und neokolonialer Überheblichkeit den Verbrecher zeichnet(e), den sie in Filbinger und selbst in den Angeklagten im Majdanek-Prozess nicht zu erkennen vermag. Na ja, aus der Sache ist nichts geworden und die Mütze hab ich dann später dem Zahl geschickt. Der meinte, das wäre keine Mütze, sondern ein Kartoffelsack. Nicht, daß mir die Flugzeugentführung nach Entebbe besonders eingeleuchtet hätte …
aber ich habe mich damit getröstet (damals), daß es in der Hauptsache um die Befreiung palästinensischer Gefangener ging, die für eine gerechte Sache kämpfen. Hinter diesem Satz steht in meinem Manuskript mit Recht die kritische Anmerkung eines der Mitgefangenen, denen ichs zu lesen gab „Und du kämpfst für eine ungerechte Sache? – Oder wie ist das zu verstehen?“ Antwort: Das ist wahrscheinlich so zu verstehen, daß in meinen Gedankengängen der Wurm drin war. Richtig ist, daß israelische Flugzeuge heute noch Flüchtlingslager der Palästinenser bombardieren. Frauen, Kinder, Greise, aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, zu einem elenden Leben gezwungen, werden mit den modernsten Mitteln kapitalistischer Kriegstechnik umgebracht. Der Anblick palästinensischer Napalm-Opfer in den Krankenhäusern war 1970 Mit-Anstoß für die allerersten Stadtgerilja-Ansätze in Westberlin und der BRD. Möglich ist aber auch, daß Verzweiflungsaktionen gegen die israelische Zivilbevölkerung und israelische Flugzeugpassagiere, Aktionen, die das Leben Unschuldiger, das Leben von Kindern, Frauen, Greisen bedrohen oder auslöschen auch der palästinensischen Sache eher schaden als nützen.
Den Gedanken an eine öffentliche Kritik an der Flugzeugentführung nach Entebbe haben wir hinterher erwogen.
Ich war dagegen. Ich kann und darf mich nicht wundern, wenn aus ähnlichen Gründen jetzt immer noch Genossen eine öffentliche Kritik an Mogadischu für unsolidarisch, Staatsschutzpolitik und wasweißich halten. Es ist nicht leicht, Genossen zu kritisieren, die bei dem Versuch, ihre Genossen zu befreien, ihr Leben riskierten und verloren. Brutalität und militärische Präzision der Kommandoaktionen israelischen Militärs und der GSG 9 in Entebbe und Mogadischu, der Tod der beteiligten Genossen hat bei uns zunächst einen Verdrängungsprozess über Sinn und Unsinn dieser Aktion in Gang gesetzt, eine Denk-Sperre aufgerichtet. Unsere Kritik an Mogadischu wird zur Heuchelei, wenn wir verdrängen, wie nahe uns die Denkweisen, wie verwandt die Handlungsweisen unseren eigenen sind. Es sind unsere Brüder und Schwestern, die diese Fehler gemacht haben. Ihre Beweggründe waren gut, aber ihr Handeln nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht. Wir wollen niemanden an den Pranger stellen, sondern auch diejenigen, die solche Aktionen noch immer befürworten, zurückgewinnen für eine vernünftige(re) revolutionäre Praxis.
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– Praktischer Internationalismus
Das internationalistische Frasengeklingel einer durch die Terrorismuspropaganda der Herrschenden und durch die Haftbedingungen ihrer und unserer Genossen zu Verzweiflungsaktionen getriebenen Geriljafraktion darf uns nicht davon abhalten, mehr als bisher über praktischen Internationalismus nachzudenken.
Der starke völkerverbindende Internationalismus der jungen europäischen Arbeiterbewegung, dessen organisatorischer Ausdruck die Sozialistische Internationale war, erlitt seine erste schwere Schlappe als die Völker Europas und die große Mehrheit ihrer Arbeiterparteien sich mit Hurra in den Ersten Weltkrieg jagen ließen.
Doch aus dem Blutbad des imperialistischen Wahnsinns wurde, nach unsäglichen Leiden und Opfern der Völker Europas in der Sowjetunion zum erstenmal eine stark proletarisch ausgeprägte und internationalistisch ausgerichtete Revolution Sieger über das schwächste Kettenglied der europäischen Burschuasi, das feudalistische Zarenreschim.
Energischer kämpfte die europäische Arbeiterbewegung nach dem 1. Weltkrieg. Es gab kleine Siege (Revolution in Ungarn, Münchner Räterepublik) und gewaltige Niederlagen. Der Teil der Arbeiterbewegung, der Verrat am Internationalismus übte, war zwar in allen Ländern kleiner geworden, doch war die Verräterfunktion (in der Weimarer Republik die Mehrheits-SPD) insgesamt und in Verbindung mit den Burschuasien noch stärker als die Kräfte der internationalen proletarischen Revolution. Ob die kommunistische Oktoberrevolution durch den Stalinismus nur deformiert oder ganz liquidiert wurde (wie zweifellos sehr viele ihrer besten Kämpfer) ist eine ebenso interessante wie brennende Frage. Ich lass sie vorsichtshalber offen. Fest steht doch wohl, daß ihre Impulse nicht nur weiterwirken wie die der Pariser Kommune von 1871; auch daß sie die Welt verändert hat.
Der Faschismus zeigte seine häßliche Fratze in Italien, Bulgarien, Ungarn, Deutschland und Spanien. Er stellte zunächst die Verbindung der reaktionärsten Teile der Burschuasi mit besonders entwurzelten ehrlosen Teilen des deklassierten Kleinbürgertums und Lumpenproletariats dar. Und konnte immer erst dann an die Macht gelangen, wenn mit Hilfe der prokapitalistischen, halbherzigen Sozialisten vom Schlage Ebert, Noske, Scheidemann der erste Ansturm der proletarischen Revolution im Blut erstickt und durch die falschen Hoffnungen auf Sozialreform besänftigt war. So gelangte der Faschismus als präventive (vorbeugende) Gegenrevolution zur Macht und entfesselte schließlich das Inferno des 2. Weltkrieges, aus dem auf Grund des verlustreichen und heldenhaften Kampfes großer Teile der vom Faschismus bedrohten Völker die Kräfte der europäischen Arbeiterbewegung gewaltig zur Ader gelassen, moralisch gestärkt und politisch (der Aufteilung Europas in eine westlich-kapitalistische und eine östlich-kommunistische Hälfte entsprechend) teils gestärkt und teils geschwächt hervorgingen.
Verlassen wir die europäische Froschperspektive, so zeigt sich Fortgang und Gesetz der Geschichte unserer Zeit in der Entwicklung anti-kolonialer und anti-imperialistischer Revolution während und nach dem 2. Weltkrieg in China, Algerien, Kuba, Vietnam, Lybien, Angola, Mozambique und Iran, um nur einige der leuchtenden Hoffnungen der Menschen beim Namen zu nennen. (Daß mit diesen Namen inzwischen nicht nur leuchtende Hoffnungen, sondern auch schwarze Enttäuschungen verbunden sind, ist die Kehrseite der Medalje. Die Haupttendenz bleibt Hoffnung.)
Schließlich entfaltete sich in den Metropolen, in den USA und den kapitalistischen Kernländern Europas eine vielfältig ausgeprägte Rebellenbewegung der lohnabhängigen und in der Ausbildung befindlichen Jugend. Der Widerstand gegen die imperialistischen Kolonialkriege in Algerien und Vietnam in den Mutterländern Frankreichs und USA und anderen Ländern der Metropole war ein wichtiger Baustein zum Sieg der Algerier und Vietnamesen. Die Vietnambewegung war zugleich Auslöser einer gewaltigen antiautoritären Bewegung, die von Berkeley aus die USA und von Straßburg, Paris, Berlin, Mailand, Rom, Frankfurt, London die Länder Europas in Bewegung versetzte und wie die Ereignisse in Warschau und Prag bewiesen, auch nicht an den Grenzen der militärischen Machtblöcke halt machte. Ein reger internationaler Ideenaustausch, die Entfaltung neue Kampf- und Lebensformen und die Selbstorganisation unterdrückter Minderheiten und Regionen begann in allen Ländern der Metropolen mit bis dahin nicht gekannter Intensität. Trotz aller Spaltungsversuche und Spaltungserfolge der Herrschenden, trotz verschärfter Repression und halbherziger Reformen, trotz Sektierertum und Solidaritätszerfall, die besonders in der bunten Republik Deutschland für viele deprimierende Ausmaße annahmen, ist die Bewegung von 68 insgesamt überall stärker geworden und hat sich in vielfachen Massenbewegungen verankert. Heute stellt etwa die Anti-AKW-Bewegung den herrschenden Konzernen und ihren staatlichen Lakaien bereits die Machtfrage. Das Entscheidungsrecht über Milliarden-Investitionen wird den Drahtziehern des Kapitals von Millionen von Menschen aus Selbsterhaltung streitig gemacht. Wyhl und Malville stehen für den Internationalismus der Anti-AKW-Bewegung, Seveso und Contergan und als jüngstes Beispiel der Fast-GAU von Harrisburg für die internationale Dimension der Lebensgefährlichkeit kapitalistischer industrieller Produktionsweise. Verstärkter Kampf gegen Rüstung und Militarismus, für ein entmilitarisiertes Europa und eine Abrüstung der Supermächte sind eine weitere Aufgabe der internationalen sozialistischen Bewegung der Gegenwart. Angesichts dieser gewaltigen Aufgaben und Lösungsansätze ist der Irrglaube des bewaffneten Jet-Set’s deutschstudentischer Herkunft, den Internationalismus gepachtet zu haben, nicht mehr als ein schlechter Witz. Internationalist ist, wer am meisten Flughäfen kennt. Up up and away!
Die Multi-Nationalität der Lohnabhängigen in der bunten Republik, auch unter den Bedingungen anhaltender Massenarbeitslosigkeit und verschärft arbeiterfeindlicher Ausländerpolitik bietet der internationalistischen deutschen Linken ein riesiges Betätigungsfeld. An internationalistischem Bewußtsein und Bereitschaft der Arbeitsemigranten zum gemeinsamen Kampf mit der deutschen Linken fehlt es ganz sicher weniger als umgekehrt. Bildungsprogramm der deutschen Linken: die Sprachen der Arbeitsemigranten lernen! Praktische Aufgabe der deutschen Linken: unterstützt die Kämpfe der Arbeitsemigranten in Deutschland! Lernt von den Kämpfen und der politischen Kultur unserer Nachbarvölker!
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Wir wollen alles. Abschaffung der Gefängnisse.
Um aber auf den Ausgangspunkt der Kontroverse über Haftbedingungen und die „richtigen Forderungen“ zur Veränderung derselben zurückzukommen, so muß gerade die Aufgabe, die Gefängnisse ganz und gar abzuschaffen, als internationale Aufgabe begriffen und der praktische Kampf zur Abschaffung der Gefängnisse muß deshalb auch als ein internationaler geführt werden. (Hierin und nicht nur hierin sind der Kampf für den Kommunismus und für die Abschaffung der Gefängnisse einander entsprechend.) Die Organisation Amnesty International ist ein halbherziger burschuaser Ausdruck dieser Problematik. Indem Amnesty „nur“ gegen Folter und für die Freilassung „politischer“ Gefangener nach bürgerlichem Verständnis einen publizistisch-moralisch-bittstellerischen Kampf führt, was für die Betroffenen allerdings nicht selten lebensrettend ist, ändert sich tatsächlich nichts an den herrschenden sinnlosen Verfahrensweisen, sozial abweichendes Verhalten benachteiligter Minderheiten und die vielfältigen Kampfformen gegen soziales Unrecht mit Knast zu belohnen. Tatsächlich ist es auch nicht die Aufgabe von Amnesty International, sondern die der internationalen fortschrittlichen und revolutionären Bewegung, die Isolations- und Repressionsanstalten und alle unmenschlichen Zwänge in jedem Land und jeder Stadt ganz und gar abzuschaffen.
Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Gummibären ist nur ein erster notwendiger Schritt zur revolutionären Weltkommune. Davon ausgehend müssen alle sozialen Ungleichheiten und Privilegien, alle autoritären und undemokratischen Strukturen durch eine ständige Ausbildung kollektiver Lebensformen, kollektiver Entscheidungsprozesse und kollektiven Lernens und durch einen ständigen kommunistischen, demokratischen und antiautoritären Kampf aufgelöst werden. In diesem Satz steht dreimal „kollektiv“. Der schon erwähnte Manuskriptleser hat das dreimal mit Bleistift unterstrichen und an den Rand geschrieben: „Wenn du allzuviel Witze machst, nimmt dir das Ganze keiner mehr ab.“ Wenn ich diese Randbemerkung richtig deute, handelt es sich weniger um einen Zweifel an der Fähigkeit zur Kollektivität der Menschen im allgemeinen, als um eine Kritik an mir. Tatsächlich habe ich in der Kleingruppen-Iso im Knast große Schwierigkeiten, mich in einer Weise kollektiv zu verhalten, die die hochgespannten Erwartungen meiner Mitgefangenen befriedigen würde. Unter anderen dürfte meine schwankende, eigenbrötlerische und selbstherrliche Haltung im Verlaufe eines Hungerstreiks zu dieser Kritik geführt haben. Einen ebenfalls sehr subjektivistischen und wie ich höre demagogischen Versuch zur Aufarbeitung der Hungerstreik-Problematik hab ich inzwischen mit dem Diskussionspapier „Hungerstreik und Solidarität“ gemacht. Auch gabs mannigfachen Arger bei unseren Versuchen, kollektive Meinungsäußerungen zur Weltlage, wie sie sich uns darbietet, zu verfassen, zum großen Teil in Zusammenhang mit meinem unbezähmbaren (au)-Torengeiz. Soviel zur kritischen Randbemerkung. Im Manuskript gings dann wie folgt weiter:
Kriminalität und Gefängnisse müssen in einer neuen Gesellschaft vollkommen sinnlos werden. Ihre Sinnlosigkeit ist bereits in der alten Gesellschaft deutlich zu spüren.
Die Bewegung der Bürger- und Rebelleninitiativen darf nicht zur Ruhe kommen, bevor sich nicht 100 Prozent der Menschen demokratisch und sozialistisch, solidarisch und bachantisch organisiert hat.
Verbrechen gegen die Revolution, Verbrechen gegen den Sozialismus und Verbrechen gegen die Demokratie müssen durch verstärkte Aufklärung, verstärkte Kommunikation, durch verstärkte Fähigkeit zu solidarischer Kritik und Selbstkritik und allgemeine Zärtlichkeit bekämpft werden.
In Europas Gefängnisland Nummer eins kommen auf je 1000 Menschen ein Gefangener. Aufgabe der Bewegung zur Auflösung der Gefängnisse ist es, dafür zu sorgen, daß sich um das Schicksal eines jeden Gefangenen 1000 Menschen kümmern. Denn es sind vor allem die Auswirkungen der Klassengesellschaft, soziales Unrecht und Klassenkampf, sowie der statistische Zufall, die von 1000 Menschen einen ins Gefängnis bringen. (Die oftmals noch traurigeren Existenzen von Schließern, Bütteln, Staatsanwälten, Strafrichtern und dergleichen müssen ebenfalls einer sinnvollen Tätigkeit zugeführt werden.) Die Gefängnisse werden freilich nicht durch eine Generalamnestie auf dem Gnadenweg abgeschafft. Selbst Amnestien für Gruppen und einzelne Gefangene wurden immer nur von einer Massenbewegung erkämpft. Die Abschaffung der Gefängnisse wird das Ergebnis einer allgemeinen Steigerung der revolutionären Kämpfe und des sozialen Verantwortungsgefühls sein.
Der Kampf für die Abschaffung der Gefängnisse in der bunten Republik kann nicht isoliert von dem Kampf zur Abschaffung der Gefängnisse in der DDR und anderen Nachbarländern geführt werden. Es ist die Propaganda der jeweiligen Herrschenden, die Repression in den Nachbarländern in den schwärzesten Farben zu schildern. Aufgabe der revolutionären Bewegungen ist es, die Repression im eigenen Lande mutig energisch, geduldig und witzig zu bekämpfen, für die Repression in den Nachbarländern nicht blind zu sein.
Kriminelle, Rauschgiftsüchtige
Kriminelle und Rauschgiftsüchtige aller Länder müssen durch Solidarität und Lernprozess in die fortschrittliche und revolutionäre Bewegung eingegliedert werden. Wo die verkalkten und menschenverachtenden Verwalter und Erhalter des bestehenden Unrechts zünisch von Resozialisierung reden, während sie als Rädchen einer parasitären Vernichtungsmaschinerie sich drehen, müssen Sozialisten durch die Schaffung von internationaler und lokaler roter, schwarzer, grüner Hilfen als mächtiges proletarisches Gegenstück zu Amnesty International verstärkte Kommunikation, materielle Unterstützung und persönliche Zuwendung für alle Gefangenen organisieren. Das heißt konkret:
Briefe, Zeitungen, Bücher, Pakete, Besuche, Veranstaltungen und Aktionen draußen, die Aufnahme entlassener und befreiter Gefangener in Wohn- und Produktionsgemeinschaften und Kampforganisationen aller Art. Keine fortschrittliche Gruppierung, keine Wohngemeinschaft, kein sozialistisches Schlafmützenkollektiv darf sich dieser Aufgabe entziehen.
Die Folgen von Isolation und Verzweiflung derjenigen, denen die Linke ihre Solidarität verweigert, können tatsächlich zu einer unguten Eskalation von Solidaritätsverweigerung, Isolation und irrationaler putschistischer Praxis führen.
Enttäuschungen und Niederlagen sind immer auch Quittung für eigene Illusionen, Fehler, Schwächen, Versäumnisse und Halbheiten.
Indianer weinen nicht.
Das heißt nicht, daß sich Indianer alles gefallen lassen. Die schmutzigen Tricks der Bleichgesichter sind durchschaut. Indianer hören nicht auf zu kämpfen für kollektive Freiheit und kollektives Glück.
Meine roten Schwester und Brüder!
Unsere Liebe und Solidarität, unsere Fantasie, unser Mut, unsere Geduld, unsere Entschlossenheit, unsere List, unsere Zärtlichkeit, unser Witz, unsere Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, unsere Hoffnung ist stärker als alles, was sich die Bleichgesichter für Geld kaufen können.
Hugh, ich habe gesprochen!
Indianer
weinen
nicht
Kampf
in den Metropolen
- wofür?
Quelle: Der Blues