Wolfgang Neuss: Gedicht für Mildred

Die unauffälligste Auflösung von Krebs im Körper
- schmerzlos, heiter, überlebensträchtig -
hat mir der Doktor LSD empfohlen:

Was dort deinen Kehlkopf kneift,
Was im Ohrläppchen, auf der Zunge,
im Ohr,an Nase, Bauch, Ellbogen, Gebärmutter ...

Das alles
sind: gefallene Soldaten
aus den letzten großen Kriegen.
Schnell getötete Geister
aus den Schlachten
du weißt doch, Onkel Paul bei Stalingrad,
Opa Reinhold vor Verdun, General Ky von Saigon,
na und jetzt der Giap, aber auch Feldmarschall Milch
und vor allen Dingen mein Bruder, der Gefreite Richter -

sagt mir der Doktor LSD:
Das ist kein Stirnhöhlenkrebs!
Das ist Willi Richter, der dir im Kopf wuchert!
Der dir mit Krebsscheren ins Gehirn schneidet
wird aber schon besser, tut nicht mehr so weh

Tja ..., sagt der Doktor LSD:
Weil du dich mal richtig
an den gefallenen Verwandten
Willi Richter erinnerst.
Das löst den Krebs auf:
Erinnerung.

Wenn du dich an so was erinnerst
wie an den Willi,
ja sag mal Willi, wie isses denn passiert?
Die Granate kam am 6. Mai,
am 7. war der Krieg vorbei.
Als das Stück EIsen mich traf,
ging ichmit dem Geist nach oben
wie ich nie hätte im Bett sterben können.
Heute krebse ich in der Stirnhöhle von Emma
bis sie sich an den gefallenen Soldaten erinnert.

Harmonisch sterben,
sich langsam vergessen.
Im Krieg sterben heißt tatsächlich:
sich selber verdrängen.

Und das wird immer Krebs:
wuchernde Innerlichkeit.
Es sei denn,
du erinnerst dich.

Doktor LSD sagt:
"Empfehle mich weiter!"

Wolfgang Neuss 1981