Ueber den Tod der Systeme

werden wir alle langsam vergiftet? durch die lebensmittel (todesmittel), die wir essen muessen? und was ist mit der kernkraft? und der 'dritte weltkieg'? wird nicht dieses system irgendwann an sich selbst zugrundegehen? und wir alle mit ihm?

aber das system muss ueberleben, daran haengt doch unser ueberleben -
so brice lalonde, der spaetere praesidentschaftskandidat der franzoesischen oeko-bewegung in einer diskussion.

sicherlich eine weitverbreitete meinung innerhalb der 'neuen sozialen bewegungen' (wie der oeko-, der friedens- und der was-weiss-ich-bewegung). auch der bewegung, von der hier immer die rede war: insofern sie mit slogans wie 'kampf gegen die organisierte unmenschlichkeit' auftritt. lalondes satz heisst im klartext: es muss gelingen, eine 'menschliche' gesellschaft aufzubauen (= ein anderes 'system'). ansonsten droht uns allen die vernichtung. das scheint einfach und klar. und wenn da einer kaeme und sagte:

    sorgen sich die leute eigentlich um das blosse ueberleben? oder darum, wie man am besten leben kann? ich bin mir dessen ganz und gar nicht sicher.

    vielleicht verlangen alle leute letztendlich nach der katastrophe -

dann wuerde jeder rechtschaffene mensch das fuer schlichten bloedsinn halten.

der, der dem umweltbewussten praesidentschaftskandidaten diesen 'bloedsinn' entgegenhielt, war nicht etwa der clown coluche - obwohl, der haette das auch sein koennen -, sondern jener theoretiker, der der 'no-future'-bewegung geradezu aus dem arsch zu sprechen scheint: jean baudrillard. (baudrillard (1978), 120, 123f, vgl. ferner baudrillard (1979), sowie (1973) und (1976))

auf ihn gehe ich jetzt genauer ein, weil ich

1) von ihm abweichen werde, aber

2) seine fragestellung fuer wichtig halte.

baudrillard begreift und kritisiert das system nicht danach. wie es seinen lebensprozess produziert - wie noch marx und alle theorie in dessen nachfolge. sondern von seinem rationalismus, der mittels einer entsymbolisierung der sprache herrscht. und diese herrschende sprache zu zerstoeren, das ist fuer baudrillard: politische aktion, jenseits der traditionellen politik. so deutet er etwa die new yorker nonsense-graffiti.

'vor allem aber wurden zum erstenmal die medien in ihrer form selbst attacktiert ... und zwar eben deshalb, weil die graffiti keinen inhalt, keine botschaft haben. es ist diese leere, die ihre kraft ausmacht. und es ist kein zufall, dass der totale angriff auf die form von einem zurueckweichen der inhalte begleited ist. denn dieser angriff geht aus von einer art revolutionaerer intuition - naemlich dass die grundlegende ideologie nicht mehr auf der ebene politischer signifikate, sondern auf der ebene der signifikanten funktioniert - und dass hier das system verwundbar ist und blossgelegt werden muss ... dazu bedarf es weder organisierter massen noch eines klaren politischen bewusstseins. es genuegen tausende mit markers und farbspruehdosen bewaffneten jugendliche, um die urbane signalethik durcheinander zu bringen, um die ordnung der zeichen zu stoeren. denn die graffiti verdecken saemtliche u-bahn-plaene new yorks - so wie die tschechen die strassennamen prags veraenderten, um die russen in die irre zu fuehren: ein und dieselbe guerilla! (baudrillard (1978), 29f.,31)

es ist das poetische, wo nach baudrillard die revolutionaere sprengkraft schlummert: die zerstoerung der entsymbolisierten sprache und die wiederherstellung laengst verschwundener symbolbezuege. das poetische als 'aufstand der sprache gegen ihre eigenen gesetze'. (baudrillard (1976), 289)

die sprachliche beschreibung zerlegt die welt in scharf voneinander

getrennte begriffe. das symbolische (oder poetische) rebelliert gegen diese trennungen.

am ursprung aller trennungen, die uns heute zu schaffen machen, steht nach baudrillard die trennung von leben und tod.

'die einheit von toten und lebenden brechen, den austausch von leben und tod unterbrechen, das leben vom tode wegdraengen und den tod und die toten mit einem verbot zu belegen, das ist der erste punkt des auftauchens sozialer kontrolle ... die fundamentale verdraengung ist nicht diejenige unbewusster triebe, irgendeiner energie, einer libido, und sie ist nicht anthropologisch - sondern sie ist die verdraengung des todes, und sie ist gesellschaftlich in dem sinne, dass sie eine wende hin zur repressiven vergesellschaftung des lebens vollzieht ... die macht installiert sich auf dieser barriere zum tode. spaeter naehrt sie sich von anderen bis ins unendliche verzweigten trennungen: diejenige von seele und koerper, von maennlich und weiblich, von gut und boese, usw., aber die erste trennung ist die von eben und tod.' (baudrillard (1979), 17f)

von daher versteht versteht sich auch sein einwand gegen den weiter oben von lalonde geaeusserten uberlebenswillen. auch seine kritik des marxismus:

    alle spaetere entfremdung, teilung und abstraktion, welche die politische oekonomie von marx kritisiert, wurzelt in dieser abtrennung des todes. (baudrillard (1979), 19)

fuer baudrillard zerfaellt die gesellschaft in eine vielzahl voneinander abgetrennter bereiche, nach dem muster der grundlegenden trennung von leben und tod. steht das nicht in einem ergaenzungsverhaeltnis zur marxschen theorie? etwa so, dass marx das system der gegenwaertigen trennung analysiert, das erst abgeschafft werden muss, bevor die weit ueber den kapitalismus hinausgehenden trennungen, mit denen sich baudrillard beschaeftigt, angegangen werden koennen? oder auch in dem sinne, dass die trennung der produzenten von den produktionsbedingungen (marx) und alle anderen trennungen nach dem muster der trennung nach dem muster der trennung zwischen leben und tod (baudrillard) sich ueberschneiden - auch wenn sie logisch miteinander nicht gleichgeordnet sind?

baudrillard wuerde diese fragen verneinen. fuer ihn steht die marxsche theorie - auch in ihren varianten, die die psychischen strukturen beruecksichtigen - unter dem vorzeichen eines mythos der produktion, der nur ein anderer ausdruck jenes zweifelhaften mythos vom ueberleben ist (baudrillard (1973))

der marxismus verkuendet nach baudrillard eine strenge arbeitsmoral, die sich von der kapitalistischen kaum unterscheidet. und wo der - undogmatische - marxismus von den beduerfnissen der menschen und aehnlichem rede, erliege er einer selbsttaeuschung: denn er bleibe an jenen 'humanismus' gebunden, der alle widerborstigen besonderheiten der menschlichen natur unter das diktat allgemeinen gluecks und fortschritts stellt. und diese spielart von 'menschlichkeit' kritisiert baudrillard mit packenden worten.

'seitdem die wilden die einzelnen mitglieder ihres stammes als 'menschen' bezeichneten, ist die definition des 'menschlichen' betraechtlich erweitert worden: sie ist ein universeller begriff geworden. eben das nennt man kultur. heute sind alle menschen menschen ... dadurch gewinnt das 'menschliche' die kraft eines moralischen gesetzes und eines prinzips der aussonderung ...

michel foucault hat die auslieferung der wahnsinnigen zu beginn der okzientalen moderne analysiert, aber wir wissen auch um die auslieferung der kinder, von ihrer fortwaehrenden einschliessung - selbst waehrend der entwicklung der vernunft - in ihren idealisierten status der kindheit, in das ghetto des infantilen universums und in due gemeinheit der unschuld, aber auch die alten sind unmenschlich und an die peripherie der normalitaet gedraengt worden. und wieviele andere 'kategorien' gibt es, die eben nur im zeichen fortschreitender trennung zu 'kategorien' geworden sind, welche die entwicklung der kultur abstecken. die armen, die unterentwickelten, die mit niederigem i.q., die perversen, die transsexuellen, die intellektuellen, die frauen - eine volkskunde des terrors, eine volkskunde der exkommunizierung auf der grundlage einer zunehmend rassistischen definition des 'normal-menschlichen' ... dennoch gibt es eine ausschliessung, die allen anderen vorhergeht und ihnen als modell dient, und die an der basis selbst der 'rationalitaet' unserer kultur steht: das ist die auschliessung der toten und des todes.

die entwicklung von den gesellschaften der wildern zu den modernen gesellschaften ist irreversibel: nach und nach hoeren die toten auf zu exitieren. sie sind aus der symbolischen zirkulation in der gruppe ausgeschlossen. sie sind nicht mehr besondere wesen oder zum austausch geeignete partner, und das macht man ihnen deutlich, indem man sie mehr und mehr aus der gruppe der lebenden verbannt: von der haeuslichen intimitaet zum friedhof (ein erster sammelplatz noch im herzen des dorfes oder der stadt), dann mehr und mehr aus dem zentrum an die peripherie verdraengt (ein erstes ghetto als vorwegnahme aller kuenftigen ghettos) und schliesslich ein nirgendwo, wie in den neuen staedten oder den gegenwaetigen metropolen, in denen fuer die toten nichts vorgesehen ist, weder im physischen noch im geistigen raum ... wir aber wissen, was diese undefinierbaren orte bedeuten. denn wenn die fabrik nicht mehr existiert, so ist die arbeit ueberall - wenn das gefaengnis nicht mehr existiert, so gibt es ueberall im gesellschaftlichen zeit/raum zwangsverwahrung und einschliessung - wenn die anstalten nicht mehr existieren, so hat sich die psychische und therapeutische kontrolle generalisiert ... wenn das kapital nicht mehr existiert ..., so ist das wertgesetz in eine selbstverwaltung des ueberlebens in all seinen formen uebergegangen ... wenn der friedhof nicht mehr existiert, so deshalb, weil die modernen staedte im ganzen diese funktion uebernommen haben: sie sind tote staedte und stadte des todes. und wenn die grosse, operationale metropole die vollendete form einer ganzen kultur ist, so ist die unsere ganz einfach eine kultur des todes.' (baudrillard (1979), 7-11)

diesem okzidentalen rationalismus haben sich - so baudrillard - marxismus und arbeiterbewegung voll eingefuegt.

'historisch gesehen - ist nicht der status des 'proletariats' (des lohnabhaengigen industriearbeiters) zunaechst jener der einschliessung, der konzentrierung und der sozialen ausschliessung? die manufakturielle einschliessung ist die phantastische ausdehnung der von foucault beschriebenen einschliessung. ist nicht die 'industrielle' arbeit (die nicht handwerkliche, kollektive, von den produktionsmitteln abgetrennte, kontrollierte arbeit) in den ersten grossen armenhaeusern entstanden? in einer ersten phase schliesst eine auf dem weg der rationalisierung befindliche gesellschaft ihre muessiggaenger, nichtstuer und abweichenden ein, sie beschaeftigt sie, sie zwingt ihnen ihr rationales prinzip der arbeit auf. aber die ansteckung ist wechselseitig und dieser schnitt, mit dem die gesellschaft ihr rationalitaetsprinzip eingerichtet hat, strahlt auf die ganze arbeitsame gesellschaft zurueck: die einschliessung ist ein modell im kleinen, das sich in der folge verallgemeinern wird, als system der industrie unter dem der arbeit, der produktiven zweckmaesigkeit - konzentrationslager, haftanstalt und zuchthaus. anstatt das konzept des proletariats und der ausbeutung auf die rassische, sexuelle usw. unterdrueckung zu uebertragen, muss man sich fragen, ob es nicht umgekehrt ist: ob der anfaengliche, grundlegende status des arbeiters nicht ein status der exkommunikation ist (wie der des wahnsinnigen, des todes, der natur, der tiere, der kinder, der schwarzen, der frauen) und nicht ein status der ausbeutung. nicht ein status der auspluenderung und ausbeutung, sondern ein status der diskriminierung und brandmarkung.

ich stelle die hypothese auf, dass es nie wirklichen klassenkampf gab ausser auf der basis dieser diskriminierung: der kampf der untermenschen gegen ihren status von tieren, gegen die gemeinheit dieser kasteiung, die sie dem untermenschentum der arbeit preisgab. das ist es, was hinter jedem streik, jeder revolute, auch heute noch hinter jedem lohnkonflikt steckt: ihre virulenz kommt daher.

das heisst, der proletarier ist heute ein 'normales wesen', der arbeiter als ganzer ist auf die stufe eines 'menschlichen wesens' vorgerueckt. damit uebernimmt er alle herrschenden diskriminierungen: er ist rassist, er ist sexist, er ist unterdrueckerisch. gegenueber den heute abweichenden, den diskriminierten aller arten, steht er auf der selben seite wie die bourgeoisie: auf der seite der menschlichkeit, des normalen. umso mehr ist wahr, dass das grundgesetz dieser gesellschaft nicht das grundgesetz der ausbeutung ist, sondern der code der normalitaet.' (baudrillard (1976), 49f.)

wie stellt sich baudrillard die zerstoerung dieses systems vor? er analysiert es ja aus dem interesse an seiner zerstoerung. mit dem begriff des proletariats faellt auch der des revolutionaeren subjekts. ja, ueberhaupt der begriff der revolution. im revolutionsbegriff fand sich - so baudrillard - das bild einer gesellschaftlichen maschine, die als explodierte und anschliessend neu zusammengesetzt werden musste. heute dagegen beobachtet baudrillard prozesse der 'implosion': in einzelnen, voneinander abgetrennten teilbereichen faellt die macht in sich zusammen. es gibt kein zentrum mehr, kein aufs ganze gehendes subjekt, sondern viele radikale minderheiten: vorzeichen dieses 'implosiven' prozesses sieht baudrillard im mai '68 und in den neuen sozialen bewegungen, die seitdem stattgefunden haben. (baudrillard (1978), 75-81)

wenn wir uns baudrillards ausfuehrungen ansehen, dann draengt sich die frage auf: haben wir hier nicht eine theorie der neuen protestbewegung als theorie der spassguerrilla?

vieles scheint darauf hinzudeuten: der 'abschied vom proletariat' ist vollzogen. an die stelle der revolution tritt die 'implosion': viele voneinander abgegrenzte minderheiten zerstoeren das system - eine von ihnen bleibt auch die arbeiterschaft (bzw. koennte wieder man zur revolutionaeren minderheit werden).

ort der auseinandersetzung ist nicht mehr die oekonomie oder die politik - so sehr auch diese bereiche fuer die 'implosion anfaellig sind und von ihr erfasst werden -, sondern die sprache, weil sie die herrschaft ausuebt. 'sprachlosigkeit' und sprachzerstoerung sind

also zerstoerung des systems. zerstoerung durch die poesie des todes, dessen trennung vom leben allen folgenden trennungen das modell gibt.

das klingt soweit wie eine einzige grosse begruendung der spassguerrilla. aber es geht noch weiter: der symbolische aufstand des todes gegen diesen furz von leben setzt sich ueber alle humanitaetsduseleien hinweg und wuerde auch die leder- und gewaltromantik der heutigen protestbewegung erklaeren. es waere immer noch die hergebrachte 'kultur des todes', die sich hier aeussert.

aber den kraeften, die die 'implosion' vorrantreiben, sowas wie 'reflexion auf das gesellschaftliche ganze' zuzumuten oder gar abzuverangen, ist fuer baudrillard weder moeglich noch notwendig: da ist ein system, das jenen grad an saettigung erreicht, an dem es zerbricht. und was danach kommt, bleibt offen. das leben von heute endet mit dem tod des systems und es enthaelt nichts von einem jenseits:

    insofern ist die einzige strategie eine katastrophische und keineswegs eine dialektische. (baudrillard (1976), 11)

'dialektisch' (im sinne baudrillards) hiesse eine 'strategie', die die gegenwart einerseits als entfremdet analysiert, andererseits unter dieser entfremdeten huelle bereits die inhalte des zukuenftigen aufspuert. also z.b. jene platte denkfigur, die den marxismus von frueh an belastet und in der praxis der arbeiterinternationalen nr. 2 und 3 verheerende folgen hatte: ihr zufolge leistet das kapital eine grossartige organisation (z.b. auf betrieblicher ebene), weil es eben nicht nur kapitalverwertung ist, sondern kapitalverwertung auf der grundlage einer rationalisierung der arbeit. rationalisierung wird dann nicht als unterdrueckung und hierarchisierung gesehen, sondern als minimierung der arbeitszeit und deshalb moegliche erweiterung der freien zeit. nur dass diese 'angenehmen' tendenzen der rationalisierung sich unter ihrer kapitalistischen form nicht durchsetzen koennen.

das ist so eine haltung 'wir muessen den laden nur noch uebernehmen - eingerichtet hat ihn schon unser vorgaenger (das kapital) fuer uns'. und das sagten sowohl die sozialdemokraten (vgl. hilferding (1910/1968), 503f.), die sich die uebernahme ueber einen wahlsieg vorstellten, als auch die kommunisten, die lange zeit davon sprachen, den staat zerschagen und die diktatur des proletariats errichten zu wollen, ganz nebenbei aber den taylorismus als arbeitsorganisation der zukunft priesen. (vgl. lenin (1918/1976), 359. sowie wolter (1975), 89-94)

nicht nur das dieser marxismus alle wichtigen fragen des alltags 'dialektisch' ausklammerte, dass also seine vorstellung von revolution reichlich duenn war (alles wurde ja bereits als fertig vorhanden oder gar als durch das kapital fortlaufend hoeher entwickelt angesehen - so hatte marx bestimmt nicht seinen beruechtigten satz gemeint, dass die geschichte der industrie das aufgeschlagene buch der psychologie des menschen sei). darueber hinaus behauptete dieser marxismus nach dem selben 'dialektischen' schema die gewissheit der revolution: wuchs die 'rationale organisation' nach der annahme dieser theorie staendig und unaufhaltsam, so wuerde irgendwann alles so weit vorangetrieben sein, dass die 'rationalitaet' ihre kapitalistische huelle gleichsam von selbst abstreifte. und nun kam es nur noch darauf an, ob diese erloesung aus dem suendenfall als langer oder als kurzer prozess vorgestellt wurde: je nachdem verband sich mit dieser ersatzreligion 'marxismus' eine haltung 'haende in den schoss - die zeit arbeitet fuer uns'. oder die haltung 'auf in die letzte schlacht'.

gegen diese karikatur von gesellschaftstheorie argumentiert baudrillard. und damit hat er recht. diese 'dialektik' tickt wirklich nicht richtig.

was setzt baudrillard dagegen? klar - mit beispielen aus der ethnologie laesst sich ein anderes gesellschaftliches verhaeltnis von leben und tod ausmalen und baudrillard fuehrt solche beispiele immer wieder an. aber das sind nur ahnungen einer anderen welt, denn:

    die entwicklung von den gesellschaften der wilden zu den modernen gesellschaften ist irreversibel. (baudrillard (1979), 9)

der traum einer entwicklung nach rueckwaerts waere deshalb hilflose romantik.

baudrillards theorie ist ihrem anspruch nach eine theorie der zerstoerung des sozialen. es ist nun zu fragen, wie weit sie diesen anspruch einloesen kann. genauer gefragt: ist 'sprachlosigkeit' bzw. sprachzerstoerung wirklich so hoch einzuschaetzen in ihrem beitrag zur zerstoerung dieser gesellschaft, wie baudrillard dies tut? gerade weil ich meine, dass diese frage zu bejahen ist, moechte ich nicht verschweigen, dass baudrillard zum beweis seiner behauptung nichts zu bieten hat. denn fuer diesen beweis waere jene frage des ueberlebens (des systems) grundlegend:

greift die sprachzerstoerung in die produktion der lebensbedingungen dieser gesellschaft ein oder nicht? so steht die frage. ansonsten wuerde ja wieder am symptom gedoktert und das ergebnis waere dasselbe wie bei dem von baudrillard kritisierten 'dialektischen' marxismus.

baudrillard behauptet locker vom hocker, dass herrschaft heute nicht mehr in der 'produktion', sondern im 'code' (= sprache und kommunikation) entstehe. in dieser behauptung steckt eine weitere annahme: dass die 'produktion' ein stabiles - oder doch zumindest heute stabilisiertes - system sei. das wuerde heissen: die wirtschaft laeuft sowieso von selbst, soziale herrschaft bildet sich in ganz anderen bereichen und kann dort - und nr dort - abgeschafft werden.

das waere eine revolution (oder meinetwegen: 'implosion') der oberflaeche zwischenmenschlicher beziehungen. da sie vor der 'produktion' halt machen wuerde, wuerde sich nichts gross veraendern.

ferner: jene erscheinungen, die baudrillard mit dem titel 'implosion' versieht und fuer etwas ganz neues haelt, sind so neu nicht. nur werden sie erst in den letzten jahren muehsam wiederentdeckt - von einer geschichtsschreibung, die sich allmaehlich von den 'grossen personen' loest und der mikroskopie des alltags zuwendet. (vgl. z.b. lucas (1976). puls (1979))

wo baudrillard eine anthropologisch gewendete 'ueberlebensfrage' kritisiert, liegt er richtig. aber es geht nicht so sehr um das. gerade dann, wenn ich das system zerstoeren will, muss ich wissen, was genau seine ueberlebensbedingungen sind.

die frage, ob es den menschen wirklich ums blosse ueberleben geht, liegt auf einer anderen ebene.

fuer das system ist es ganz geichgueltig, wie diese frage beantwortet wird. es muss ueberleben, um weiter zu herrschen.

die ganze geschichte der einschliessungen und ausgrenzungen, so sehr sie - und mit ihr der okzidentale rationalismus - nach hinten und nach vorne ueber das kapitalverhaeltnis hinausweisen: sobald sich das kapital einmal als gesellschaftsformation eingerichtet hat (und das gilt genauso fuer jede andere gesellschaftsformation ausser fuer die anarchie), steht die frage - fuer das kapital - so:

wie kann diese vielfalt von trennungen so in das system der produktion eingebaut werden, damit sich das kapital verwertet?

und daraus ergibt sich die destruktive gegenfrage:

wie ist der produktionsmechanismus dieser gesellschaftsformation zu beseitigen und was ist ausserdem noch alles zu beseitigen, damit die anarchie erreicht wird?

diese frage kompliziert sich noch dadurch, dass dieses 'ausserdem' keine zeitliche, sondern nur eine logische folge benennt: ob mit der abschaffung der trennung von produktionsbedingungen und produzenten, der trennung von wahnsinnigen und normalen, der trennung von mann und frau oder auch der trennung von leben und tod begonnen wird - es gibt da keine 'strategische' reihenfolge. die revolten werden getrennt oder verbunden ablaufen (deshalb ist die unterscheidung von revolution und implosion ein scheinproblem), sie werden an systemgrenzen stossen. und diese grenzen werden immer die des gegebenen gesellschaftssystems sein. also bei uns des kapitalistischen. doch damit nicht genug. die besprechung der spassguerilla hat ergeben, dass diese so lange ihren naehrboden findet, wie es herrschaft gibt - und keineswegs nur kapitalistische herrschaft. und wenn dann irgendwann das leben zum tod gefunden haben sollte ... dann ist auch jene gesellschaft erreicht, deren menschlichkeit nicht mehr auf die ausschliessung des 'unmenschlichen' sich gruendet.