Die Soziale Revolution

Peter Paul Zahl:

Die Soziale Revolution
ist die permanente Revolution,
ist der Klassenkampf
als ständiger Lernprozeß

    Nein, ich will es nicht sehen!
    Es gab keinen Kelch, der es faßte,
    keine Schwalbe gibts, die es tränke,
    keinen Lichtreif, der es gefröre,
    keinen Sang, keine Sintflut von Lilien -
    es mit Silber zu decken, kein Wasser.
    Nein.
    Nicht ich!! Ich will es nicht sehen!
    Nicht ich!! Ich will es nicht sehn!

      Federico Garcia Lorca

Blut. Er liegt da einer in seinem Blut. Tot liegt Benno Ohnesorg. Und wir waren Benno Ohnesorg. Niemand anders. Damit fing es an für uns: Sie haben geschossen. Und es ist gleich, wessen Finger sie da krümmten, wessen Pistole sie da verwandten, wessen Hirn sie da verwirrten. Und gleich ist es, daß sie es nicht 'Mord' nennen, wie wir, gleich, wer der Todesschütze, damals hieß er Kurras, heute heißt er Legion, heißt er MEK, SEK, GSG 9, FBI, CIA, MI 5, Special Branch, gleich ob der Tote von ihnen gerichtet wird, weil er "etwas getan". Denn sie tun es immer: Gewalt ausüben, verstümmeln, zerschlagen. vernichten, morden.

    Zwischen Idee / und Wirklichkeit (...)
    fällt der Schatten. (Eliot)

Einige haben es nicht begriffen. Einige begreifen es heute noch immer nicht: die Gewalt ist zurückgekehrt aus den Kolonien, aus der Dritten Welt, heimgekehrt in die Metropolen. Weltweite Verteilungskrise, Verfall des Kapitalismus, Rückzugsgefechte des Imperialismus, sagten die, die es schon immer wußten, die in der Geschichte nur 'eherne Gesetze' sahen, Selbstverwertung des Kapitals, Akkumulation, Akkumulation, die Zehn Gebote seit Fugger und Luther.

    Der Frühling ist aufständisch.

      Neruda

Da lag einer in seinem Blut. Das Bild - diese kniende Frau daneben, ihr erinnert euch? - grub sich ein in unsere Gehirne. Unauslöschlich. Den trafs. Gemeint waren wir alle, Opfer wir alle. Nur Opfer. Nicht Kämpfer, nicht einmal das. Der war 'unschuldig', sagten wir, sagten viele von uns. Der war zum ersten Mal auf einer Demonstration. Der hätte ich sein können, der hättest du sein können. Die hatten begonnen zu schießen, und wir waren Opfer. Nur Opfer.

Zwei Jahre später, ich erinnere mich, zogen wir vor den Knast Moabit. Da sollten Deserteure aus Berlin in die Bundesrepublik geflogen werden. Das Wetter war schön. Wir hatten 'nichts besonderes' vor. Wir waren friedlich. Da hatten die einen 'Kessel' vorbereitet, da waren wir drin, und die prügelten; und wir liefen, buchstäblich wie die Hasen. Ich höre mich noch schreien, als einer von diesen Prügelautomaten von hinten an mich heran lief - es war auf der Brücke über die Spree, unweit des S-Bahnhofs 'Bellevue'. Die Brille hatte ich eingesteckt, meine Holzpantinen in die Hände genommen, schneller laufen zu können. 'Ich habe doch nichts getan', rief ich noch, ehe d e r zuschlug. Eine Zeitlang lag ich noch bewußtlos auf dem Boden. Dann stand ich auf (die hatten noch nicht mit dem 'Einsammeln' begonnen ), setzte mir die Brille auf, schlüpfte in meine Holzpantinen, putzte mir das Blut aus dem Gesicht, ging fort, traf ein paar Genossen auf den Geleisen im S-Bahnhof 'Bellevue'. Sie schmissen Steine, schmissen auf die Bullis und Transporter, darin d i e saßen und ab und an ausstiegen und 'die Strecke abräumten', wie bei einer Jagd: die Verletzten, Verprügelten einsammelten und verhafteten und mitnahmen zur 'erkennungsdienstlichen Behandlung'. Ich schmiß mit. Nie wieder, sagte ich mir, wirst du nichts tun.

    Hört auf, die Toten zu töten,
    hört auf zu schreien, schreit nicht,
    wenn ihr sie noch einmal vernehmen wollt,
    wenn ihr hofft, nicht unterzugehen.

      Ungaretti

Mit Benno Ohnesorg hat es angefangen, und mit Ulrike, die von einem oder mehreren Unbekannten (Staats-Schützern) in der Zelle in Stammheim erdrosselt wurde, hört es lange noch nicht auf.

Zwischen Benno und Ulrike liegen neun Jahre.

Und in diesen neun, zehn Jahren müssen wir langsam eines begriffen haben: die DIALEKTIK VON OPFER UND KAMPF, von REPRESSION UND WIDERSTAND, von LEIDEN UND KÄMPFEN.

Hier, in der totalen Isolation meiner Spezial-Einzelzelle, verfolge ich ohnmächtig, zornig, leidenschaftlich und - wenn immer es mir möglich ist - solidarisch, daß nun, zehn Jahre nach dem 2. Juni 1967, ein Jahrzehnt nach dem Mord an Benno Ohnesorg, leider immer noch zumeist nur e i n e Seite dieser dialektischen Einheit aktualisiert, reflektiert, praktiziert wird. Das macht: wir wähnen uns immer noch als Metropolen-Bürger und sind schon längst die NIGGER DER INNEREN KOLONISIERUNG.

    Es werden Tage sein
    wie die Pfirsiche der Erntezeit.

      Tello

Welche Überwindung hat es gekostet, welche Skrupel mußten überwunden werden, bis der erste Stein von uns geworfen wurde, bis sich zage Gegengewalt gegen eine Gewaltmaschinerie richtete ! Nach dem 2. Juni ! Nach dem vielen vergossenen Blut auf unserer Seite ! Welch Kenntnisse mußten erworben, nachgeholt werden - aus der Geschichte der Klassenkämpfe, die uns graue Vorgeschichte schien, nach der Ungeschichte, die da herrschen sollte, von Hitler bis Adenauer ! Welch Illusionen hatten wir gehegt über die bürgerliche Reformpartei SPD, wie wenig wußten wir von der Geschichte der Arbeiterbewegung - die nicht die Geschichte dieser oder jener Arbeiterorganisation unter der Führung von Kleinbürgern oder Intellektuellen war und ist ! - Da war ein Schweigen gewesen im Land, ein black out, ein Tabu, ein Loch in der Zeit. Seminarmarxisten gab es, gewiß, Altkommunisten, hier und da, resignierte Sozis auch, die ab und an etwas erzählten, den Ostermarsch gab es und den VUS, den Abendroth und für ein paar Feinschmecker den Bloch; da lispelten Gruppen, kleiner und einflußloser als Borussia Dortmund, von Korsch, Pannekoek und Gorter, Rosa und Karl, Max Hoelz und Durruti ... Wir waren das Produkt einer blutbefleckten Empfängnis; eine vor parfümiertem Dreck, deodorierendem Schweiß, propagandistisch -chemisch gereinigtem Blut stinkende alt-junge Hebamme brachte uns zur Welt, ein Monster, eine Furie in Latenz die formiertre Gesellschaft, die un-informierte Gesellschaft, die nun immer mehr zur uni-formierten Gesellschaft wurde, wird.

Der Tote in der Krummen Straße hatte uns mehr aufgeklärt als 1000 Seiten BILD, ZEIT, SPIEGEL, DAS KAPITAL und 10.000 Fußnoten.Damals waren wir noch sprachlos, als wir erlebten, wie die Lüge und die Hetze regierten: der Ermordere hat schuld. Nun sind wir nicht mehr sprachlos. Aber wir gewöhnen uns auch nicht daran. Nie.

Der Tote in der Krummen Straße mit seinen auf immer geschlossenen Augen lehrte uns sehen: da war der Besuch eines verfaulten, korrupten, sadistischen Potentaten. In der Oper gab es Mozart. Der verfaulte, korrupte, sadistische Feudalharscher schlachtete in seinem Lande Menschen ab in Hekatombea - damit es ihm und unserer herrschenden Klasse wohl ergehe auf Erden. Er brachte seine Mörder und Schläger gleich mit. Die schlugen auf uns ein, mit Eisenstangen. Und "unsere" bewaffnete Macht sah zu.
Und später und heute immer noch schlagen sie zu. Nicht mehr nur mit Eisenstangen, sondern auch mit Heroin. Mit 'Berliner Tinke'. Monopolhersteller: der Schahinschah, Resa Pahlewi. Seine Exporteure: die Schwester des Lichts der Arier und da SAVAK. Und unsere bewaffnete Macht sah und sieht zu. Polizeidirektor Boettcher, Berlin, nach der Schießerei zwischen SAVAK-Perserbande und Berliner (viel zu anständiger) "Unterwelt":

    "Die Jungs haben nicht so gemeint."

So schlagen sie zu; so schafften sie, unsere Rock- und (weiche) Drogenbewegung in Berlin kaputtzumachen, die sich auch nach dem 2. Juni 1967 entwickelte.

Der Tote in der Krummen Straße, unweit der Oper, lehrte uns sehen: sie schlachten uns ab und lachen und sprechen frei. Erst selektiv, mal hier, mal da, dann massenhaft. Das werden wir, das werdet ihr noch erleben. Denn: wir haben zu wenig gelernt vom Toten in der Krummen Straße, von der Toten - 9 Jahre später - in Stammheim.

"Schuldig" - "unschuldig", "bewaffnet" - "unbewaffnet" - was spielt das für die eine Rolle ? Wir lernten hinzu. Und wir mußten schnell hinzulernen. Die schlachteten Erich Mühsam, am 10./ 11. Juli 1934 - unbewaffnet war er ! - ; die schlachteten Federico Garcia Lorca am 20. August 1936 - unbewaffnet auch er! - , die schlachteten Benno Ohnesorg - er war unbewaffnet! - schlachteten Georg on Rauch - bewaffnet, nicht zum Schuß gekommen; Tommy Weisbecker, bewaffnet, die Waffe nicht gezogen; Petra Schelm, auf der Flucht von hinten durch den Kopf; Richard Epple, von hinten, unbewaffnet; Ian McLeod, nackt, unbewaffnet. Ob da eine Waffe in der Hand der Opfer, spielte nie eine Rolle, und auch die Waffenlosigkeit der Opfer spielte nie eine Rolle: das Opfer ist schuldig, Schuld trägt das Opfer. Logik der Macht.

    Beweint die Toten nicht.
    Ersetzt sie.

      H. C. Geissler

Die anderen Dinge lernten wir nicht von dem Toten in der Krummen Straße.

Wir mußten in den zehn Jahren seit dem 2. Juni 1967 lernen:

  • daß ultrarevolutionäre Phraseologie ein Charakteristikum unbedeutender Sekten ist;
  • daß der 'linke Idealismus' der die Geschichte noch einmal von vorne beginnen lassen möchte und ihre Kontinuität leugnet, ein Indiz fur organisatorische und ideologische Schwäche ist;
  • daß eine unflexible Taktik häufig ein Beweis für das Fehlen einer allgemeinen Strategie ist (Debray);
  • daß wir nicht dort wieder anfangen konnten, wo die KPD mit Thälmann gescheitert war;
  • daß die Ungleichzeitigkeit von Prozessen nicht nur Voraussetzung - und Produkt des vom Imperialismus geschaffenen Weltmarktes ist, sondern auch daß diese Ungleichzeitigkeit in uns selbst und zwischen uns herscht;
  • daß "nichts auf immer verloren ist" (Serge).

Wir lernten:

  • uns nicht abzufinden, sensibler, mithin anfälliger zu werden;
  • daß wir einen Leib haben;
  • daß die Spaltung und Isolierung der Gattung Mensch bis tief in unser eigenes Inneres reicht;
  • daß wir alte Bedürfnisse neu zu erwecken, künstliche mühselig abzubauen hatten;
  • daß wir, die 'Robinsons', von den 'Freitags' zu lernen haben, von unseren vietnamesischen, angolanischen, kubanischen, indianischen, afro-amerikanischen Schwestern und Brüdern;
  • daß Lernprozesse Bewußtsein schaffen und Bewußtsein Freude schaffen kann;
  • daß wir "um zu siegen, sterben können müssen, und um sterben zu können, das Leben lieben müssen" (Korovesis).

Seit dem 2. Juni 1967 wissen wir, daß wir uns im Bürgerkrieg befinden - und daß wir völlig unvorbereitet waren, dieser Zeit und diesem Krieg zu begegnen.

    Du kennst / den Feind.
    Anfangs / wird er sagen:
    "Sie leben nicht mehr, sie sind gefallen.
    Es wird keine Revolution geben,
    alles ist vorbei. "
    Danach werden sie sagen:
    weil sie unsere Existenz
    nicht verschweigen können,
    wir seien hart,
    wir würden sie nicht schonen,
    wir hätten uns sehr verändert.

    Aber nichts ist sicher.
    Du weißt:
    Die Tiefe unseres Hasses
    umschließt in unendlichen Räumen
    die wahrste Liebe.

      Edgardo Tello, geb. 1941, gefallen 1965

Zeitungsartikel, Reden, Anthologien, Erinnerungen, traurige oder gehässige Bücher: vor zehn Jahren, sagen sie, welch Aufbruch! Und nun? fragen sie. Auch einige "alte Kämpen" plappern ihnen nach. APO? Studentenbewegung? fragen sie. Tot! sagen sie. Aber auch: eine neue APO? eine neue 'Studentenbewegung'?

Die sogenannte "Studenten-Bewegung" war nie eine, sie war eine von Jungarbeitern, Studenten, Lehrlingen, Schülern. Zumindestens dort, wo von Bewegung die Rede sein konnte. In "Waffe der Kritik"schrieb ich - Dichter sind nie "Propheten", sondern, wenn es gut geht, Chronisten, Seismographen - : die Revolte ist nicht tot. Die Studenten würden wieder anfangen - weil sich nichts G r u n d s ä t z l i c h e s geändert habe. Die Studenten haben wieder angefangen. Es werden (wieder) anfangen: die Lehrlinge, die Schüler, die Jungarbeiter, die jungen Arbeitslosen, die älteren Arbeitslosen, die Frauen, die jungen Fremdarbeiter in ihren Gettos, die "mobilen Massenarbeiter" (Roth) in den immer höllischer werdenden Produktionsstätten, die Gefangenen in den Knästen und Lagern ...

WIR SIND MEHR GEWORDEN. Selbst da, wo wir es nie vermuteten - in den netten Reihenhäusern, den bescheidenen Volkshochschulen, auf dem flachen Land, vor den Stacheldrahtverhauen des "Privatbesitzes", der KKWs, in den Bürgerinitiativen, in den Heimen und Asylen.

DIE ANDEREN HABEN AUFGERÜSTET — PRÄVENTIV. Der Klassenfeind lernt schnell, vielleicht schneller als das Volk (oder gut marxistisch: das "proletarische Lager", Marx), sagte Fidel Castro im Stadion, Santiago, Chile, kurz bevor die Volksfrontregierung dort — keinerlei Lehren ziehend aus der Geschichte der internationalen Klassenkämpfe! — gestürzt, das Volk massakriert wurde.

Herr Benda, damals CDU-Innenminister, heute oberster Hüter einer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Verfassung, riet vor zehn Jahren zum beschleunigten Ausbau der bewaffneten Konterrevolution. Er sah sie — wie seine seminarmarxistischen Gegenüber — heranziehen, die "Wolken am Himmel der Konjunktur".

Bleibt es bei der Isolierung der - gesamten ! - Linken von dem "produktiven Gesamtarbeiter" (Marx), sie wird, angesichts der elektronischen und waffentechnischen Vorarbeit der Konterrevolution — in einer Nacht "abgeräumt" ! Machen wir uns nichts vor: alles links von der SPD (wenn nicht gar: links von Helmut Schmidt, der sehr weit rechts steht) ist schon im Computer, abrufbereit, abholbereit, unvorbereitet am Tag X, in der Nacht X. Die großen und kleinen Manöver zu dieser Abräumaktion sind zur vollsten Zufriedenheit der Staatsschutzorgane gelaufen. (Und verfallt bloß nicht in den Fehler, dies irgendwelchen Genossen vorzuwerfen, die Anlasse geboten haben mochten. An Anlässen fehlte und fehlt es nie. Zur Not werden sie präzise geplant, ob Reichstagsbrand, Tongking-Affäre, Stuttgarter "Bombendrohung” -) Wir haben ja noch nicht einmal eine 'Washington Post', eine Bürgerrechtsbewegung von Belang, nicht einmal die Kraft der (lohn- oder auftragsabhängigen) Mittelklasse, die genug citoyen-Bewußtsein hätte, auch nur den gröbsten Greueln, - der Isolationsfolter, zum Beispiel, in westdeutschen Gefängnissen Einhalt zu gebieten. Devise dieses, unseres - zuweilen menschlich anständigen und neuen Liberalismus: "Kaputt gehen oder kaputtgehen lassen" (Brecht).

Damals, kurz nach dem 2. Juni, faszinierte uns ein Slogan aus der chinesischen Kulturrevolution:

    Vertrauen auf die eigene Kraft ...
    Bringen wir es auf ! Seien wir einmal selbst - bewußt !

Wir müssen unsere Klassenlage analysieren. Diese Untersuchung muß dem Ziel dienen, die eigene Klasse zu revolutionieren. Sonst (zunächst) keinem.

Bislang - dies einer unserer Hauptfehler in den 10 Jahren seit dem Mord vor der Berliner Oper - haben wir fast nur zu missionieren versucht. Wie diese Narodniki, damals, über die ein Lenin - in diesem Punkt zurecht - spottete. Was bewegte Benno Ohnesorg, zum ersten Male in seinem Leben auf eine Demonstration zu gehen ? Wo er dann umgebracht wurde. Was machte ihn betroffen ?

Was macht uns betroffen, also wütend, zornig, kämpferisch, änderungswillig - revolutionär? Warum fällt, nach den Jahren, Innen und Außen wieder auseinander, "Internationalismus" (Vietnam, Portugal, Chile, Zimbabwe, Namibia) hier, und "Selbsterfahrung" da ? Beinhaltete unser Protest, unser Widerstand gegen "den größten Völkermord seit Auschwitz" (Peter Weiß), gegen den schmutzigen Krieg in Vietnam - keine - "Selbsterfahrung" ? Gewannen wir nicht - Identität, doppelte Identität ?

Wie erklären wir es uns, daß wir dieses Mädchen - ihr erinnert euch an dieses Foto: sie an den Haaren gehalten, den zarten Leib in schwarzen Pyama mit Handgranaten umschnürt -, das mit Schwestern und Brüdern einen "Kamikaze"-Angriff auf die "uneinnehmbare" amerikanische Botschaft unternommen, ihn zum Teil geschafft hatte, dann in Gefangenschaft geriet (was geschah dann mit ihr ?) - daß wir dieses Mädchen liebten, so wie wir unsere Schwestern lieben, die mit uns vor Brokdorf ziehen ?

Wie erklären wir es uns, daß diese Liebe wieder aufgespalten, zwangsgespalten ist ?

Unsere Niederlagen ?

Ich meine: reflektieren wir genug, reden wir genügend über all die wirklichen Fortschritte, die wir wirklich und wahrhaftig machten ? Reden wir nicht zu wenig über unser Gelingen, unsere Freude, unseren Spaß am Leben, am Kampf, am Schönerwerden, am Freundlicherwerden ?

Überlassen wir dies nicht zu oft den - Dichtern ?

Verdrängen wir nicht zu oft das, was uns nicht - ins "Konzept" paßt ? Gehen wir nicht gar zu gern gewissen Zwecklügen der Konterpropaganda auf den Leim ?

Die RAF hat im Juni 1972 eine Niederlage erlitten. Es stünde ihr gut an, sie zuzugeben, sie zu analysieren, über neuere, bessere Kampfesweisen mit der neuen Linken in den Dialog zu treten. Dies scheint vielen zupaß zu kommen. Ist die Niederlage der RAF nicht auch unsere Niederlage ? Wer profitiert von den mutmaßlichen und echten Gegensätzen zwischen "Massenlinie" und "Guerillalinie" ? Wer spuckt da auf Bubacks Grab - und erfüllt dennoch gedankenlos sein politisches Vermächtnis? Warum korrigieren Berliner Genossen, die es wissen müssen, nicht die Lügen, Verdrehungen und Projektionen eines Bommi Baumann ? (dessen Buch dennoch nützlich ist). Warum, frage ich mich, dienen gerade diese Unkorrektheiten als nur zu gern aufgegriffenes Alibi für das A u s b l e i b e n einer echten Auseinandersetzung - zum Beispiel mit den Genossen des "2. Juni" ...

Warum diese - politisch und psychologisch kaum noch verständliche - Verdrängung der Notwendigkeit des Selbstschutzes des proletarischen Lagers - also auch eures Selbstschutzes ?

In diesem Lande blieb selbst die bürgerliche Revolution aus. Die Beamten - Organisation des deutschen Staates, der Administration, im Bunde mit den aggressivsten Teilen des deutschen und multinationalen Kapitals; dies Land mit seinen unterentwickelt gebliebenen Erneuerungs- und Lernprozessen, mit seiner Arbeiterbewegung, die zwei imperialistische Kriege und 12 Jahre o f f e n e n Faschismus nicht verhindert, ja nicht einmal relevant bekämpft hat - lehren sie euch nicht das Einfachste, Naheliegendste, die Vorbereitung zur NOTWEHR ?

Unsere Niederlagen tun nichts zur Sache. "Wenn wir das Lernen nicht verlernt haben" (Rosa Luxemburg). Wenn.

    Dabei wissen wir doch:
    Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.
    Auch der Zorn über das Unrecht
    macht die Stimme heiser. Ach, wir
    die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
    konnten selber nicht freundlich sein.
    Ihr aber, wenn es so weit sein wird
    daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
    gedenkt unser
    mit Nachsicht.

      Bertold Brecht

Was wir damals - der 2. Juni 1967 ist da "nur" Station im Geschichts-, im Kampf, - im Lernprozeß - begonnen haben, darf sich mit diesen Entschuldigungen nicht zufrieden geben. Wir haben uns damals vorgenommen: wir nehmen das Morgen ins Heute hinein. Ein großer Vorsatz. Ein schmerzlicher Prozeß zuweilen, ein lohnender. Im Schoße der alten Gesellschaft, so der alte Marx, reife die neue heran. Reift unsere neue heran ? Arbeiten wir daran, die GROSSE VORWEGNAHME mit Freude zu praktizieren ? Antizipieren wir genügend ? Sind Produktionsformen in Sicht, die morgen Gültigkeit haben sollen; sind Verkehrsformen präsent, die a l 1 e n zeigen könnten: so soll es sein, so wird es sein ... ?

Oder sind wir zu sehr mit den "Muttermalen der alten Gesellschaft" (Marx) behaftet, reichen diese "Muttermale" manchmal gar vom Fuß bis zu den Ohren ?

Ein Nietzsche hatte doch Recht mit seinem Spott über die Christen: sie sahen ihm "zu unerlöst" aus.

Ach, ich meine nicht diese Kluft zwischen unseren Ansprüchen und unserer täglichen, eigenen Praxis. Ich meine nicht dies "linke Überich", das ebenso wie ein bürgerliches nur schwer auf den Schultern hockt, uns einzuschnüren scheint.

Müssen nicht außer den unveräußerlichen Elementen proletarischer Demokratie (wie sie in fortgeschrittenen Arbeiterkämpfen, aber auch, und da liegt unser aller großes Verdienst, in den "Glanzzeiten" unserer Revolte, praktiziert werden:

  • uneingeschränkte Demokratie,
  • Vollversammlungen, die Arbeitsergebnisse beraten und verabschieden,
  • Durchsetzung des Gleichheitsprinzips,
  • Delegiertensystem,
  • Bekämpfung von (Macht-) Autorität,
  • schwesterliche und brüderliche Zärtlichkeit

Selbstverteidigungsstrategien und -praktiken diskutiert und in die Realität umgesetzt werden ? (Zur Lektüre empfohlen: das Buch einer 80-jährigen' - ! - Genossin: Der demokratische Bolschewik, von Ilona Duczynska, List Verlag, 1975).

"Um zu siegen, müssen wir sterben können, und um sterben zu können, müssen wir das Leben lieben." (Korovasis) ...

Liebt ihr euch so wenig?

Liebt ihr euch so wenig, daß ihr euch noch das absurde Theater: hier Militantismus, Aktionismus, da Selbsterfahrungsgruppe oder Seminarmarxismus leistet ? Seid ihr euch so wenig - Helfer ? Haltet ihr es für "Freundlichkeit" (Brecht) mit offenen Augen in den kollektiven Selbstmord zu gehen, wie die Juden im 3. Reich ?

Bleibt ihr Opfer ? Wie Benno Ohnesorg, am 2.Juni 1967, als die herrschende Unvernunft sich in samtenen Sesseln fläzte, von keinerlei Legitimationstheorie mehr beleckt - außer dem Dreck von Popper und Co. - und der "Zauberflöte" grunzend, verdauend, dösend lauschte?

Die Gewalt, die maschinengewehrbestückte schiere Unvernunft, die von den Vietnamesen, Kubanern, Chinesen, Angolanern, die von den Schwestern und Brüdern in Soweto und Kingston, Saigon und Maputu schmerzhaft verletzte, angeschossene, waidwunde Akkumulation, die von SAM-Raketen empfindlich verwundete Profitrate: der Terror ist aus der Dritten Welt, aus den Kolonien in die Mutterländer zurückgekehrt:

  • Deutsche Oper,
  • Kent State,
  • Attica,
  • Derry,
  • Stammheim,
  • Carabanchel ...

Nun, 10 Jahre nach dem 2.Juni 1967, 10 Jahre nach Benno Ohnesorg, werden w i r verstärkt bluten, zusammengeschossen werden, abgeschlachtet, interniert, gefoltert. Solange wir es zulassen. Scham, sagt Marx, ist ein revolutionäres Gefühl. Scham sollten wir empfinden über die Niveaulosigkeit unserer Defensiven, die Schlaffheit unserer Offensiven, die Lauheit unserer Alternativen, unsere Interesselosigkeit angesichts des Leids jener, die angefangen hatten aufzubrechen - und zumindest zur Zeit gescheitert sind.

Aber Freude auch über das Erreichte. Es ist ungemein viel. Für diese lächerlichen, schmerzlichen zehn Jahre.

Quelle: Der Blues, Seite 130-136